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Grundeinkommen

  • von

(Zeitung 2006) Emanzipation oder Legitimation? Gabriele Michalitsch

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Arbeit und Einkommen – in kapitalistischen Gesellschaften stellen sie zentrale Determinanten menschlicher Existenz dar: Sie bestimmen individuelle Lebenschancen, Handlungsoptionen, Identitäten, Selbstentwürfe und Fremdbilder wesentlich. Auf der Verknüpfung von Arbeit und Einkommen und den damit verbundenen Differenzierungen, Hierarchien, Zwängen, Disziplinierungs- und Formierungsprozessen beruht die Funktionsweise von Kapitalismus.

Arbeit und Einkommen sind demnach zentrale Reproduktionsmechanismen und Repräsentationsweisen von Macht, die sich in den Ungleichheiten der Verteilung von Arbeit und ihrer Entlohnung manifestiert. Ausschließlich Erwerbstätigkeit findet als Arbeit Anerkennung. Vorrangig Frauen zugewiesene Arbeit im „Privaten“ – wie Hausarbeit, Kinderbetreuung, Krankenpflege – hingegen wird als „Liebesdienst“ definiert und nicht entlohnt.

Die in den letzten Jahren zunehmend beschworene Krise der Arbeitsgesellschaft infolge steigender Arbeitslosigkeit und wachsender prekärer Beschäftigung mit entsprechend vermehrten biografischen Instabilitäten und individuellen Risiken geht mit Einschränkungen sozialer Absicherung sowie steigender Armut einher. Schon in den 1980er Jahren geführte Diskussionen um Grundeinkommen und Grundsicherung wurden damit neu belebt.

Grundsicherung – Grundeinkommen

Grundsicherungsmodelle setzen das bestehende Beschäftigungs- und Sozialsystem voraus und zielen darauf ab, möglichst alle Erwerbsfähigen in Erwerbsarbeit zu integrieren und sozial abzusichern. Grundeinkommenskonzepte streben hingegen, sofern sie von einem Grundeinkommen in existenzsichernder Höhe ausgehen, eine Neugestaltung von Arbeits- und Einkommensverteilung sowie des gesamten Sozialsystems an.

In Grundsicherungsmodellen bleiben Erwerbsarbeit und -einkommen gegenüber Sozialtransfers vorrangig. Sie richten sich lediglich auf den (Sonder-)Fall misslungener Arbeitsmarkt-Integration. Bei Grundeinkommen steht hingegen nicht Erwerbsarbeit im Vordergrund, sondern materielle Sicherung. Grundeinkommen impliziert im allgemeinen die regelmäßige (etwa monatliche) Auszahlung eines Fixbetrages ohne Gegenleistung, Grundsicherung lediglich die Festlegung von Mindeststandards im Bereich erwerbsabhängiger Transferleistungen (Arbeitslosengeld, Pension etc.). Mit Grundeinkommen verbinden sich stets Fragen nach Umbau des gesamten Sozialsystems und Notwendigkeit anderer Sozialleistungen. Grundsicherung lässt diese unangetastet.

Emanzipation, Ökonomie, Sicherheit

Ein garantiertes Grundeinkommen richtet sich demnach gegen den Zwang zu Erwerbsarbeit. Es stellt einen Schritt zu individueller Autonomie dar, indem es Selbstbestimmung über Erwerbstätigkeit ermöglicht. Vor allem Frauen könnte ein Grundeinkommen Wege aus ökonomisch begründeten persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen eröffnen. Es besteht allerdings auch die Gefahr, dass dadurch ihrer verstärkten Marginalisierung und Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt Vorschub geleistet wird.

Ein Grundeinkommen, das bestehende Sozialleistungen nicht ergänzt, sondern ersetzt, hätte einen Systemwechsel im Bereich sozialer Sicherung zur Folge. Durch Standardisierung und Universalisierung würden Möglichkeiten eines radikalen Bürokratieabbaus eröffnet – und damit weitgehender Reorganisation großer Teile des öffentlichen Sektors.

Darüber hinaus könnte ein Grundeinkommen zu verbreiterter Anerkennung von Arbeit führen und Erwerbsarbeit im Verhältnis zu anderen Formen von Arbeit relativieren – z.B. Versorgungsarbeit im Privatbereich oder gesellschaftlich notwendige Arbeit, wie sie gegenwärtig vielfach ehrenamtlich etwa im Kontext von NGOs, Bürger-initiativen oder Vereinen erbracht wird. Neue, nicht-marktorientierte Formen von Arbeiten und Wirtschaften könnten damit aufgewertet werden, sich eigenständig entwickeln und letztlich zu einer Neudefinition des Leistungsbegriffs führen.

Ein Grundeinkommen trägt in jedem Fall zur Stabilisierung von Kaufkraft in Phasen konjunktureller Einbrüche bei, indem es Einkommen – und damit Nachfrage, Produktion und Beschäftigung – sicherstellt. Es wirkt wie ein automatischer Stabilisator der Wirtschaftspolitik. Mit Hilfe eines Grundeinkommens könnte schließlich auch die im letzten Jahrzehnt zentrale Problematik der Massenarbeitslosigkeit entschärft werden. Wie sich das Arbeitsangebot – vor allem in Niedriglohnbereichen – entwickeln würde, bleibt dabei jedoch ebenso offen wie Fragen nach vermehrter Schwarzarbeit, Auswirkungen auf Lohnhöhe, Innovationen und möglichen neuen Formen von Arbeitsorganisation, Beschäftigung oder Arbeitszeit. Zugleich lässt sich ein garantiertes Grundeinkommen allerdings auch als Akzeptanz und Legitimation des Abgehens von Vollbeschäftigung als vorrangigem wirtschaftspolitischem Ziel, als Zeichen resignativer Politik interpretieren.

Zentraler Stellenwert in der Grundeinkommensdebatte kommt weiters dem Problem der Armutsbekämpfung zu. Das gegebene Sozialsystem erfüllt angesichts des raschen, sich beschleunigenden Wandels des Arbeitsmarktes seine Sicherungsfunktion immer weniger. Daraus resultierende Armut und Armutsgefährdung könnten durch ein Grundeinkommen verhindert werden.

Normative Kraft des Faktischen

Rückten Grundeinkommensdiskurse der 1980er Jahre vor allem den emanzipatorischen Charakter von Grundeinkommen, dessen Potenzial zur Befreiung von Lohnarbeit, in den Mittelpunkt, so fokussieren Grundeinkommensdebatten der letzten Jahre vor allem auf Arbeitslosigkeit und Armut. Voraussetzungen für die Durchsetzung eines garantierten Grundeinkommens wurden hingegen kaum untersucht. Auch an Bezügen zur empirischen Gerechtigkeitsforschung – und damit zu Akzeptanzbedingungen in der Gesellschaft – fehlt es weitgehend.

Im allgemeinen herrscht in Österreich und Deutschland nur geringe generelle Umverteilungsbereitschaft. Zustimmung zur Idee einer Mindestsicherung wird an Differenzierungen (etwa nach Familienstand oder Arbeitsbereitschaft) gekoppelt, wie sie im bestehenden Sozialsystem vorliegen. In sozialpolitische Institutionen eingebaute Gerechtigkeitsprinzipien prägen die Vorstellungen von sozialpolitisch Möglichem, Wünschenswertem und Akzeptablem: „Aus den Wechselwirkungen von institutionalisierten Gerechtigkeitsprinzipien und empirischen Gerechtigkeitsvorstellungen ergibt sich für die Institutionen der Systeme sozialer Sicherung ein hohes Potenzial an Selbstlegitimation: Der sozialpolitische Status Quo generiert bei Politik und Publikum sozialpolitische Gerechtigkeitsvorstellungen, die affirmativ auf ihn zurückwirken.“

Nicht zuletzt deshalb bedarf die Debatte um ein Grundeinkommen umfassender demokratischer Öffentlichkeit. Demokratische Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen, politökonomischen und letztlich individuellen Transformationspotenzialen eines garantierten Grundeinkommens sowie gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten jenseits vermeintlicher Sachzwänge könnten schließlich demokratische Entscheidungen über zukünftige Modelle von Arbeit, Einkommen und sozialer Sicherung ermöglichen.


Gabriele Michalitsch, Politikwissenschafterin und Ökonomin, ist derzeit Aigner-Rollett-Gastprofessorin an der Universität Graz.

Glossar

Grundeinkommen

Zielt langfristig auf eine Neugestaltung der Arbeits- und Einkommensverteilung und des gesamten Sozialsystems ab.

Stellt die materielle Absicherung und nicht die Erwerbsarbeit in den Vordergrund. Kein Zwang zur (Erwerbs)arbeit.

Regelmäßige (etwa monatliche) Auszahlung eines Fixbetrages ohne Gegenleistung.

Trägt zu Bürokratieabbau, breiterer Anerkennung von unbezahlten Tätigkeiten als Arbeit, Stabilisator der Wirtschaft, Entschärfung von Massenarbeitslosigkeit bei.

Grundsicherung

Baut auf dem bestehenden Beschäftigungs- und Sozialsystem auf.

Umfasst Maßnahmen zur Verbesserung der Erwerbsarbeit und des Zugangs dazu.

Primäres Ziel ist die Beseitigung von Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen und Zugangsschwierigkeiten beim bestehenden System der sozialen Sicherung.

Mindeststandards im Bereich erwerbsabhängiger Transferleistungen (Arbeitslosengeld, Pension etc.) werden festgelegt.

Wirkt nicht systemverändernd.

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