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Problembärenbewältigung

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(Zeitung 2006) 10 Jahre Neoliberalismus in der Kulturpolitik. Ein Jubiläum. Gerhard Ruiss

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Gemessen an der Zunahme und Präsenz kultureller und medialer Großereignisse, von Gedankenjahren über Mozartjahre bis hin zu einem alle Lebensbereiche durchdringenden Sportereignis wie der letzten Fußballweltmeisterschaft, muß die politische Darstellungsnot recht groß sein. Wenn 80 Prozent der Entscheidungen in der EU fallen und zu 80 Prozent den Wünschen der Wirtschaft entsprechen, bleibt nicht mehr viel Spielraum für die heimische Spitzenpolitik. Der Kanzler kann sich als erster Fan im Staate erweisen, und die anderen Regierungsmitglieder mit ihm als wichtigster Fan-Club von ständig wechselnden siegreichen Anliegen. Steht gerade kein solches zur Verfügung, hilft der „Problembär“ aus: „Wir haben hier ein Bären-Ansiedlungsprogramm, mit dessen Hilfe ganze Bärenfamilien heimisch gemacht werden. Die richten auch ab und zu Schäden an, da wird auch einmal ein Schaf gerissen. Aber das wird dann erstattet, und niemand regt sich auf.“ (Bundeskanzler Wolfgang Schüssel [1])

Die Gunst der Stunde hat nicht nur den politischen Geist von Nationalen und Neoliberalen beflügelt, auch Bürgerliche und Konservative, Sozialdemokraten und Grüne sehen sich in einem neuen politischen Wettbewerb, in dem sie sich nach Werten und Grundsätzen umsehen, aber keinerlei Anstalten machen, sie auch zu gebrauchen.

Problematisiert werden Verluste bei Risikokapitalgeschäften, nicht die Fragwürdigkeit der Entwicklungen des Kapitalmarkts, und nicht einmal mehr argumentiert werden muß, wenn der wichtigste österreichische Schulbuchverlag aus öffentlichem in privates Eigentum übertragen, und weil sich keiner in Österreich einen solchen Verlagskauf leisten kann, an einen deutschen Schulbuchkonzern verkauft wird. „Du sollst als Staat nicht Eigentümer von Verlagen sein“, heißt es wie in einem an die Zehn Gebote anschließenden elften Gebot, und niemand in der medialen und politischen Öffentlichkeit wagt mehr, ernsthafter nachzufragen, warum.

Ungehindert breitet sich eine Politik aus, die sich auf einer Titelseite des Kurier vom 17.6.2006 in ihrem perfekten Zusammenspiel mit einem Panoramabild von 50.000 begeisterten, reihenweise ihre Arme in die Höhe reißenden Fans beim Nickelsdorfer „Nova Rock-Festival“ der „heißen Nächte“ zeigt und gleich darunter mit der Schlagzeile „Höhe der Löhne [2] soll künftig im Betrieb verhandelt werden – Forderung der Industrie wird nun von Wirtschaftsforschern unterstützt“. Oder darin: Zwei Drittel der Österreicher/innen sagen, daß sie gegen den Rückkauf der restituierten Klimt-Bilder an die Bloch-Bauer-Erben sind, folglich wird nicht rückgekauft, zum Kauf der Abfangjäger wird hingegen niemand befragt, folglich wird gekauft. Oder darin: Drei Viertel der Österreicher finden Bush und seine Politik „unsympathisch“, folglich darf Bush von niemandem bei seinem Staatsbesuch in Österreich beleidigt werden und hat sich auch niemand, wie die Bezirksverwaltung des Bezirks der amerikanischen Botschaft in Wien mit ihrer von SPÖ und Grünen beschlossenen Resolution „Herr Bush, Sie sind hier nicht willkommen!“ vom Besuch Bushs in Österreich auf Einladung des österreichischen EU-Vorsitzes zu distanzieren.

Chefsache Kunst

Das alles ist in der kultur-, bildungs- und medienpolitischen Auseinandersetzung schon lang nicht mehr neu. Spätestens 1997, mit der von der SPÖ verwirklichten und der ÖVP begrüßten „Chefsache Kunst“, hat sich ein deutlich anderer Umgang mit Kunst- und Kulturfragen als in den Jahrzehnten zuvor abgezeichnet, dessen hauptsächliches Ziel war, die größtmögliche politische Kontrolle innerhalb der Regierung über alle Entscheidungen in diesem Bereich zu gewinnen und zugleich einen mit einem relativ geringen Kostenaufwand verbundenen maximalen Werbeeffekt für sich zu beanspruchen. Ein signifikant unfreiwilliges aktuelles Beispiel dafür hat die Startwerbung für den österreichischen EU-Vorsitz geliefert, die aufgrund eines als „Pornographie“ diffamierten künstlerischen Beitrags [3] durch den Kunststaatssekretär wegen „Themenverfehlung“ zurückgepfiffen wurde, während der weitestgehende Ausschluß von kultur-, bildungs- und medienpolitischen Beiträgen von zeitgenössischen österreichischen Künstler/inne/n für den Kunststaatssekretär keine Themenverfehlung war.

In zwei Veranstaltungen, am Beginn und am Ende der österreichischen EU-Präsidentschaft, wurden Kulturthemen angeschnitten, in einer Auftaktveranstaltung die Frage nach dem „Content“ [4] und in einer Ausklangsveranstaltung die Befassung mit der „Digitalisierung des Kulturguts“ [5] mit starker nationaler und internationaler Beteiligung von Unternehmen und Unternehmensvertretern und öffentlichen Verwaltungen und ohne Beteiligung österreichischer und internationaler Künstler/innen und ihrer Interessenvertretungen.

Weder dem dafür zuständigen Staatssekretär noch dem ebenfalls dafür zuständigen Bundeskanzler fällt auf, daß das symbolische Kapital der von ihnen bei jeder Gelegenheit beschworenen „Weltkulturnation“ (Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel) mit dem „weltbesten Kulturbudget“ (Kunststaatssekretär Franz Morak) mehr und mehr verschwindet. Kein einziges Mal wurde während der österreichischen EU-Präsidentschaft die in den Ländern der EU und insbesondere in der „Kulturnation Österreich“ anstehende Ratifizierung der UNESCO-Konvention zur Förderung der kulturellen Vielfalt erwähnt. Es muß aber auch nicht auffallen, wenn das wegen Schlechtwetters ausgefallene „Konzert für Europa“ mit den Wiener Philharmonikern auf Wunsch des Bundeskanzlers noch „schnell“ in den letzten Tagen seines EU-Vorsitzes „nachgeholt“ werden kann. Oder anders ausgedrückt: Es ist seit der Durchsetzung der Neuregelung der Buchpreisbindung gegenüber der EU kein einziges zurückliegendes oder während der österreichischen Präsidentschaft thematisiertes österreichisches kulturelles Anliegen an die EU bekannt, es gäbe aber eines, nämlich die Absicherung österreichischer und europäischer Kulturinteressen vor dem Zugriff der wirtschaftlichen Liberalisierungsinteressen der EU-Wettbewerbsdirektion und der WTO mit der beispielhaften und von den anderen EU-Mitgliedsstaaten geforderten Ratifizierung der UNESCO-Konvention zur Förderung der kulturellen Vielfalt.

Immerhin fehlen wenigstens die großkoalitionären Peinlichkeiten der letzten österreichischen EU-Präsidentschaft 1998, könnte man sich denken, wo bei der in alle EU-Staaten übertragenen Eröffnungsveranstaltung „zwischen E und U“ Allesdarsteller Alfons Haider einen Lipizzaner über seine offenbar ganz außergewöhnliche Vorliebe für Lipizzaner-Stuten interviewt hat, aber es findet sich auch kein ernsthafter Versuch mehr, wie noch bei der letzten österreichischen EU-Präsidentschaft, eine Präsentation der europäischen Kulturminister und ihrer Kulturvorstellungen mit einer kulturpolitischen Diskussion durchzuführen.

Es will aber sowieso niemand mehr ernstzunehmende von nicht ernstzunehmenden Beiträgen in öffentlichen Diskussionen unterscheiden. Die Verluste der BAWAG von einer Milliarde Euro lösen angeblich Sorgen um den Finanzplatz Wien aus, die Verluste von acht Milliarden Euro an einem einzigen Handelstag an der Wiener Börse werden als allmähliche Normalisierung eines zuvor zu schnellen Wachstumsprozesses eingestuft; das Eintreten gegen den Verkauf von Landesenergie-Gesellschaften an private Eigentümer wird von den Befürwortern des Verkaufs als Panikmache vor dem Ausverkauf des Wassers gebrandmarkt, obwohl es nicht um die Abfüllung und den Verkauf von Wasser in Trinkflaschen, sondern um die Energieerzeugung und Energieversorgung geht, usw. usf.

Inzwischen hat die Stunde der Wichtigtuer und Dilettanten einigen auch schon wieder geschlagen. Manche haben auf ihrer Odyssee durch Partei-und Regierungsämter, privatwirtschaftliche und öffentliche Verwaltungen noch einmal in die Politik zurückgefunden, wie der neue und alte Sprecher der FPÖ bzw. des BZÖ, Peter Westenthaler, der vor Antritt der schwarz-blauen Koalitionsregierung 2000 die Kunstsubventionen um 80 Prozent zurückschrauben wollte und sich vorübergehend genauso glücklos am Österreichischen Fußballbund und im Magna-Konzern Frank Stronachs zu schaffen gemacht hat. Spurlos verschwunden ist hingegen seine ehemalige Parteikollegin und bisher einzige parlamentarische Kulturausschußvorsitzende der FPÖ, Brigitte Povysil, die zwar nicht ganz so weit gehen wollte, aber die Halbierung der Kunstsubventionen für eine durchaus angemessene Finanzierungsgrundlage hielt. Selbstverständlich nicht rechnerisch begründet. Vorbei sind auch die Zeiten, wo ein Finanzminister Grasser in einer Opernloge während einer Vorstellung in Damenbegleitung lärmend Sekt trinken mußte, um kulturell aufzufallen, er trinkt ihn inzwischen verheiratet in die österreichische Großindustrie an privaten Traumstränden.

Kunst ohne Politik

Überhaupt ist die Großindustrie recht gut in der österreichischen Regierung vertreten. Klarerweise ist deshalb auch in der Kunst viel von Kreativwirtschaft, Sponsoring, Public-Private-Partnership und gerade nur noch nicht von Shareholder-Value und Corporate Identity, aber oft und immer öfter von einer Kunst ohne Politik die Rede. Ganz so als wäre das gesellschaftliche Zusammenleben nicht mehr von politischen Entscheidungen bestimmt. Und vielleicht stimmt das in der Wahrnehmung von Politikern ja auch, es entspricht allerdings weder dem Leben von Nicht-Künstlern noch dem von Künstlern.

Und damit ist bei weitem nicht die Finanzierungsfrage von Kunst allein gemeint, wie sie durch eine entwicklungsunfähige bis entwicklungsunwillige Politik, gleichermaßen von bürgerlicher wie von sozialdemokratischer Seite, gerne als einziges offenes und letztlich nie ganz zur Zufriedenheit von Künstlern lösbares Problem thematisiert wird. Die Frage der Höhe, der Notwendigkeiten und der Maßnahmen in der Kunstförderung beginnt nämlich erst dann ein Thema zu sein, wenn keine anderen Regulierungsmöglichkeiten im Verkehr mit Kunst bestehen bzw. greifen. Selbst wenn es so sein sollte, wie der Kunststaatssekretär versichert, daß ein unabhängiger öffentlich-rechtlicher ORF existiert, der jedenfalls nicht von einem Kunststaatssekretär zur Änderung seines vertrags- und honorarrechtlichen Umgangs mit Autoren angehalten werden kann – bekanntlich hat der ORF die Hörpielhonorare für Autoren um 50 Prozent gekürzt – so hätte er doch die Möglichkeit, sich für eine urhebervertragsrechtliche Gesetzgebung einzusetzen, die einen solchen Umgang mit Autorenrechten verhindert.

Womit es schon um die Forderungen geht. Zwei Forderungen von Künstlerseite sind in den letzten beiden Legislaturperioden seit dem Jahr 2000 erfüllt worden, genauer in der vorletzten, weil ja in der vorletzten nichts wirklich Wichtiges thematisiert worden und übergeblieben ist, das man in der letzten noch verwirklichen hätte können: die „Künstlersozialversicherung“ und die gesetzliche Preisbindung bei Büchern, die einem Preisdumping-Verbot gleichkommt.

Beide Forderungen stammen aus den beiden Legislaturperioden von 1994 bis 1997 [6] und 1997 bis 2000 [7] unter sozialdemokratischer Ressortleitung. Die „Künstlersozialversicherung“ in der jetzigen Form wurde von den Künstlern beeinsprucht und daher von der Vorgängerregierung der jetzigen Regierung nicht umgesetzt. Die Buchpreisbindung wurde von der Nachfolgeregierung der früheren Regierung vorerst nicht begrüßt und erst durch den Willen der Betroffenen durchgesetzt. In allen vier Legislaturperioden bzw. immerhin in mehr als einem Jahrzehnt ist nicht viel mehr gelungen, als ein zuvor schon bestehendes vertragsrechtliches, bei der Wettbewerbsdirektion der EU angefochtenes Regulativ wie die Buchpreisbindung gesetzlich zu verankern und eine „Künstlersozialversicherung“ zu schaffen, die so wenig auf die sozialen Probleme der Künstler/innen eingeht, daß die Künstler/innen so unzufrieden wie am Ausgangspunkt der Diskussion vor zehn Jahren mit ihr dastehen.

Stimmt nicht, es ist mehr passiert. Es gibt keine einzige Theaterentscheidung auf Bundesebene, die gegen den Willen des Staatsoperndirektors durchgesetzt werden kann – oder gegen den Willen des Direktors des kunsthistorischen Museums, wenn es um die Bundessammlungen geht, und zwar auf viele weitere Jahre der Laufzeit ihrer Verträge hinaus. Und es gibt auch kein Geld, und zwar für niemanden, der/die nicht ohnehin schon viel gehabt hat und noch ein bißchen was dazu braucht, wie die Kunstmäzenin Francesca Habsburg. Und es gibt keine Möglichkeiten, etwas gesetzlich in Gang zu setzen und zu verändern, da so gut wie alle gesetzlichen Angelegenheiten des Kunstressorts außerhalb des Kunstressorts angesiedelt sind: die steuerlichen Angelegenheiten der Kunst im Finanzressort, die sozial bessere Absicherung von Künstlern im Sozialressort, die Urheberrechte zur rechtlichen Besserstellung im Justizressort usw.

Ministerverantwortlichkeit

Mit welcher nächsten Regierungskonstellation sich die Künstler/innen auch auseinandersetzen werden müssen, drei Dinge dürfen sie von Anfang an keiner nächsten Regierung ersparen. 1. Die Kunstverwaltung muß wieder in direkter Ministerverantwortlichkeit geschehen. 2. Das Regierungsprogramm muß klare gesetzliche Vorhaben im Bereich der Kunst, Kultur, Bildung und Medien für die laufende Legislaturperiode enthalten. 3. Das Kunstbudget muß, inklusive Teuerungsausgleich, sofort auf seine frühere ungekürzte Höhe und innerhalb der Legislaturperiode deutlich angehoben werden.

Unter diesem Niveau ist jeder Versuch, sich um Weiterentwicklungen im Kunst- und Kulturbereich zu bemühen, und jedes weitere über Theater- und Museumsdirektoren-Bestellungen und die Beeinflussung von ORF-Direktoren-Bestellungen hinausgehende kulturpolitische Handeln vollkommen sinnlos; und sogar das wäre sinnlos, da so gut wie alle Bestellungen und Vertragsverlängerungen schon in dieser Legislaturperiode vorgenommen und für die nächste bis übernächste Legislaturperiode mitentschieden worden sind.

Übrigens: 2007 steht, so wie es bis jetzt aussieht, kein Großereignis bevor, erst 2008 mit der in Österreich und in der Schweiz ausgetragenen Fußball-Europameisterschaft wieder und 2009 mit der EU-Kultur-Hauptstadt Linz.


Gerhard Ruiss ist Schriftsteller und Geschäftsführer der IG Autorinnen Autoren


Anmerkungen

[1] Bild am Sonntag, 11. 6. 2006 bzw. Salzburger Nachrichten, Titelseitenmeldung vom 19.6.2006: „Bär ‘Bruno’ wird immer dreister. Die Landratsämter in Bad Tölz und Garmisch-Partenkirchen riefen die Bevölkerung am Sonntag zu erhöhter Vorsicht auf. Grund für den Alarm: Der wandernde Braunbär ‘Bruno’ war am Wochenende seelenruhig durch die oberbayerische Ortschaft Kochel am See spaziert. Der bayerische Umweltminister Schnappauf (!) warnte: ‘Der Bär hat immer mehr die Scheu vor Menschen verloren und dringt in menschliche Ansiedlungen ein.’ Die finnischen Bärenjäger haben unterdessen die Spur des Bären wieder verloren. Die Jagd nach dem Raubtier kostete bis jetzt rund 100.000 Euro. Der WWF meldete, daß sein Bärenbudget erschöpft sei. Meldungen, wonach der Bär Sonntagmachmittag wieder in Tirol aufgetaucht sein soll, erwiesen sich als falsch.“
[2] Gemeint: der Löhne laut Kollektivvertrag bzw. der Mindestlöhne.
[3] 25 Peaces, euroPART, Tanja Ostojic, in Anlehnung an Gustave Courbets „L’Origine du Monde“/Der Ursprung der Welt, 1866, entgegengestreckter weiblicher Unterleib in EU-Slip.
[4] „Content for Competitiveness“, Wien, Hofburg, 2.-3.3.2006, veranstaltet vom Staatssekretariat für Kunst und Medien.
[5] „An Expedition to European Digital Cultural Heritage“, Salzburg, Residenz, 21., 22.6.2006, veranstaltet vom Ministerium für Bildung und Kultur.
[6] XIX. Gesetzgebungsperiode.
[7] XX. und letzte Gesetzgebungsperiode vor „Schwarz-Blau“ mit bisher zwei Gesetzgebungsperioden.

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