(Beitrag in der Infobroschüre Selbstständig | Unselbstständig | Erwerbslos, 2012)
Ein Überblick
Clemens Christl
Während der Begriff der Arbeit begriffsgeschichtlich ebenso wie im realen Leben eine breite Vielfalt an Fremd- und Selbstdefinitionsmöglichkeiten eröffnet, ist der Begriff der Arbeitslosigkeit zumindest im Alltagsverstand recht einfach besetzt: Arbeitslos ist, wer (um zu leben) aufs AMS pilgert (wenn dies denn überhaupt geht).
Offiziell hat das AMS v. a. eine zentrale Aufgabe: Firmen, die Personal suchen, sollen dieses auf einfachem Weg finden. Oder umgekehrt: Wer einen Job braucht, soll Zugriff auf das sich bietende Arbeitsplatzreservoir haben. Zusätzlich hat das AMS (und vergleichbare Einrichtungen in anderen Ländern) auch eine Balance-Funktion zu erfüllen: Während die Lohnersatzfunktion des Arbeitslosengeldbezugs den ökonomischen Druck zur Arbeitsaufnahme tendenziell herabsetzt, wird zugleich mit Disziplinierungs- und (Wieder-)Eingliederungsmaßnahmen versucht, diesem Effekt entgegenzuwirken. Mit den Veränderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte ist die Funktion der Überbrückung von arbeitslosen Zeiten jedoch zunehmend in den Hintergrund gerückt und das Pendel ist mehr in Richtung der Androhung von Sanktionen ausgeschwungen. Das ist umso bedeutender, als die öffentliche Arbeitsverwaltung sich im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung im Norden seit den 1970er Jahren von einer relativ randständigen Einrichtung zu einem der Knotenpunkte der gesellschaftlichen Institutionenlandschaft entwickelt hat. Nach dem Ende der Konzepte „Vollbeschäftigung“ und „Job fürs Leben“ gibt es immer weniger Menschen, die das AMS noch nie von innen gesehen haben. Eines kann festgestellt werden: Beliebter ist das AMS dadurch nicht geworden.
Nun ist es nicht das AMS, das die Regeln entwirft (auch wenn das manchmal so aussieht). Diese unterliegen vielmehr einem gesellschaftlichen – v. a. natürlich einem parlamentarischen – Aushandlungsprozess. Beginnen wir mit einem Überblick über die, wenn auch spärlichen, aktuellen Verbesserungen im österreichischen Arbeitslosenversicherungssystem.
Verbesserungen im Arbeitslosenversicherungssystem
Verbesserungen gibt es auf drei Ebenen: Ausdehnung der Sozialversicherung auf bislang wenig abgesicherte Vertrags- und Arbeitsformen, einschließlich Arbeitslosenversicherung; zahlreiche Modelle, die sich unter dem Begriff Kombilohn subsumieren lassen; und Verbesserungen in Sachen Weiterbildungsmöglichkeiten.
Zu Ersterem gehören die Einbeziehung der freien DienstnehmerInnen in die Arbeitslosenversicherung, die Einführung der freiwilligen Arbeitslosenversicherung für Selbstständige, die Einführung der Ruhendmeldung für künstlerische Tätigkeiten sowie die Erweiterung der Rahmenfristerstreckungszeiten. Die Einbeziehung der freien DienstnehmerInnen in die Arbeitslosenpflicht (mit 1. 1. 2008) bedeutet zwar de facto eine Verlagerung der Sozialversicherungskosten auf die DienstnehmerInnen, schließt aber nach Jahren immerhin eine systemische Lücke. Freie Dienstvertragszeiten nach dem 1. 1. 2008 begründen jetzt regulär eine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld. Die freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige (seit 1. 1. 2009) bringt zumindest Gewerbetreibenden und seit 1. 1. 2011 potenziell auch Kunstschaffenden, sofern sie keine weiteren Tätigkeiten als Neue Selbstständige ausüben, die Möglichkeit einer Überbrückung von einkommensschwachen Zeiten. Allerdings ist sie derzeit in Verbindung mit der neuen Klausel, dass eine bestehende Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung den Bezug von Arbeitslosengeld ausschließt, vor allem für neue Selbstständige sowie Personen mit selbstständigen und unselbstständigen Tätigkeiten so gut wie nie nutzbar. Die Erweiterung der Rahmenfristerstreckungszeiten, siehe Info 1 (zuletzt im Sommer 2009 von in der Regel drei auf fünf Jahre verlängert), hingegen bringt vor allem Möglichkeiten für jene, die vorübergehend oder noch keine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld erworben haben.
Die Verbesserungen aus der Kategorie Kombilohn können ähnlich den bisher genannten für die Betroffenen eine unmittelbare Hilfe sein. Andererseits handelt es sich doch in der Regel eigentlich um Subventionen für ArbeitgeberInnen mit möglicherweise weitreichenden und fatalen Folgen für den Arbeitsmarkt (Herausbildung eines staatlich geförderten Niedriglohnsektors, der den Druck auf das gesamte Lohngefüge erhöht). Zu nennen sind hier die Eingliederungsbeihilfe (befristete Lohnsubvention für sogenannte Langzeitarbeitslose oder akut davon Bedrohte), der Kombilohn selbst (insbesondere auch für ältere ArbeitnehmerInnen, die sonst aufgrund hoher Gehälter in die Arbeitslosigkeit abgedrängt würden), aber auch die vielfältigen Möglichkeiten temporärer Beschäftigung, die über Arbeitsstiftungen installiert werden. Diese Form der Verbesserung kommt seit Jahren immer stärker zum Einsatz und wird in der Regel vom AMS durchaus wohlwollend gewährt.
Die großzügigsten Verbesserungen gab es in den vergangenen drei Jahren bei der Bildungskarenz. In mehreren Schritten wurden seit 1. 1. 2008 sowohl die Voraussetzungen reduziert als auch das vom AMS auszubezahlende Weiterbildungsgeld angehoben. Aktuell kann eine Bildungskarenz bereits nach einem halben Jahr Beschäftigung bei dem/der gleichen ArbeitgeberIn in Anspruch genommen werden (seit Sommer 2009). Diese und vergleichbare Maßnahmen (z. B. Ausweitung der Kurzarbeitsbeihilfe) wurden vor dem Hintergrund der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise im Rahmen der beiden „Arbeitsmarktpakete“ realisiert, die im Lauf des Jahres 2009 in Kraft getreten sind und dazu beitragen sollen, die weitreichenden Auswirkungen der Krise auf den Arbeitsmarkt abzufedern.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die genannten Verbesserungen der letzten Jahre fast durchgehend das Ergebnis von Reparaturen vorangegangener sozialversicherungsrechtlicher sowie gesellschaftlicher Änderungen sind. Die meisten verbessern zwar tatsächlich die unmittelbare Situation der Betroffenen, im Vergleich zum Stand vor den jeweiligen Änderungen ist deren Einkommens- respektive Existenzlage aber in der Regel dennoch insgesamt mit Verschlechterungen verbunden. Eine Ausnahme bilden Maßnahmen wie die Bildungskarenz (siehe auch Info 5).
Spezifische Entwicklungen für KünstlerInnen
Durch die neue Regel, wonach sich Pflichtversicherung und gleichzeitiger Arbeitslosengeldbezug ausschließen, sind KünstlerInnen ganz besonders betroffen von den bereits angesprochenen Verschiebungen in der Architektur der Arbeitslosengesetzgebung. Während diese Klausel mit ihrem Inkrafttreten am 1. 1. 2009 seitens des AMS zunächst rigoros ausgelegt wurde, konnten im Frühsommer 2009 zumindest kleine Verbesserungen erreicht werden. Seither gilt eine in der Praxis immer noch schwierig auszulegende Regelung, wie sie als Ausgangspunkt dieser Infobroschüre im Sommer 2009 vom Kulturrat Österreich formuliert wurde. Die Einzelheiten sind in den Infoteilen 3 und 4 ausführlich dargestellt. Parallel hierzu wurde auch die berufsspezifische Betreuung von KünstlerInnen am AMS umgestellt (siehe Informationen zu Team 4 KünstlerInnenservice hier und hier).
Die Konsequenz aus diesen Entwicklungen ist eine generelle Abwertung von Arbeit verbunden mit zum Teil arbeitsverhindernden Effekten: Aufträge und bezahlte Tätigkeiten müssen nun des Öfteren abgelehnt werden, um den Anspruch auf Arbeitslosengeld (nicht die Leistung!) erhalten zu können. War es bisher durchaus gern gesehen, wenn erwerbslose ArbeitslosengeldbezieherInnen neben dem AMS-Bezug arbeiten gingen – im Team 4 KünstlerInnenservice war es bis Februar 2009 sogar notwendig, einen zwar kleinen, aber regelmäßigen Verdienst zum Verbleib in der Betreuung nachzuweisen –, so gilt dies für Selbstständige und solche, die auch selbstständig tätig sind, nun nicht mehr. Für viele lautet die neue Losung daher: arbeiten nur noch zeitlich geblockt – während des Bezugs von Arbeitslosengeld wird es zunehmend problematisch.
Workfare oder Flexicurity
Unter diesen Schlagworten kann die generelle Veränderung im Bereich Arbeitslosenversicherung respektive Existenzsicherung auch in Österreich zusammengefasst werden: soziale Sicherheit als Ausgleich für erhöhte Flexibilitätsanforderungen im Bereich der Arbeitswelt. Unterschiedliche Prämissen und Zielsetzungen in der Arbeitsmarktpolitik führen seit einigen Jahrzehnten zum selben Schluss: Es kann nur jenen gut gehen, die ihre Existenz „eigenverantwortlich“ und „autonom“ über den Arbeitsmarkt sichern. Aktuell umgesetzte oder diskutierte Maßnahmen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik funktionieren also nicht mehr nach dem Grundsatz, dass erworbene „Rechte“ im Fall des Eintritts des Versicherungsfalls eingelöst werden können (welfare), sondern sie verknüpfen diese „Rechte“ mit neuen „Pflichten“ (workfare). Die – immer schon an Voraussetzungen (z. B. Vorversicherungszeiten) und Bedingungen (z. B. Arbeitsbereitschaft) geknüpften – Leistungen etwa aus der Arbeitslosenversicherung können nur noch in Anspruch genommen werden, wenn „Gegenleistungen“, zum Beispiel in Form der Suche nach Arbeit oder der Teilnahme an Qualifikations- und Beschäftigungsmaßnahmen, erbracht werden.
Die Ziele unterschiedlicher Workfare-Maßnahmen sind dabei ebenso verschieden wie die theoretischen und politischen Ideen der Umsetzenden. Eine Grundprämisse ist aber jedenfalls, dass Arbeitslosigkeit und Armut nicht strukturell bedingt sind. Vielmehr wird suggeriert, sie lägen in der individuellen Verantwortung der einzelnen Arbeitslosen und Sozialhilfe-EmpfängerInnen – und alle unmittelbar Betroffenen von Workfare-Maßnahmen seien daher an ihrer Lage selbst schuld. Als noch viel grundsätzlicher gilt die Unterscheidung in Erwerbsarbeit und den Rest: Nicht nur kommt die im Großen und Ganzen nach wie vor von Frauen erbrachte Arbeit im Haushalt, generell im reproduktiven Sektor, nicht zur Sprache, alleinstehende Frauen mit Kinderbetreuungs- oder Altenpflegepflichten sind von solchen Maßnahmen meist auch noch in verschärfter Weise betroffen. Die Betreuungsarbeit übernimmt niemand sonst, gleichzeitig fehlt die Zeit für Erwerbstätigkeit, Ausbildung (die immer noch einigermaßen schützt) oder Jobsuche jenseits der Billigstarbeit – und für die bezahlte Auslagerung der Pflichten fehlt das Geld.
In den vergangenen Jahren wurden die Zumutbarkeitskriterien sowie die Bedingungen für eine positive Beurteilung der Arbeitswilligkeit mehrfach verschärft, zudem der Berufsschutz abgeschafft sowie die Leistungszeiträume eingeschränkt. Demgegenüber bekommen Maßnahmen und Kurse immer stärkeres Gewicht, wobei die Sinnhaftigkeit offenbar bereits in der Teilnahme selbst gesehen wird – unabhängig vom persönlichen Nutzen für die Betroffenen. Mit 1. 1. 2008 wurden zahlreiche Gesetzesklauseln eingeführt, die nicht nur die Zuteilung von Arbeitslosen zu Maßnahmen gegen deren Willen und/oder Wunsch erleichtern, sondern auch sozusagen gesetzliche „Lücken“ schließen, die bestimmte Vorgangsweisen des AMS bis 31. 12. 2007 unterbinden hätten müssen. Tatsächlich hatte es davor eine Reihe von Verwaltungsgerichtshoferkenntnissen zugunsten von Arbeitslosengeld-BezieherInnen gegeben, beispielsweise gegen die Anwendung von Kriterien der Arbeitswilligkeit auf AMS-externe Maßnahmen.
Damit ist ein Kernproblem des AMS benannt: die Tatsache, dass das Gewähren der Existenzsicherung und das Verhängen von Disziplinierungsmaßnahmen in einer Institution ohne einen unabhängigen Instanzenzug zusammenfallen (abgesehen von den Höchstgerichten). Dadurch ist es in der Regel schwierig, Informationen zu Berufungsmöglichkeiten zusammenzutragen oder die eigenen Rechte durchzusetzen (siehe auch Info 6).
Erwerbsloseninitiativen
Die Verschärfungen im AlVG mit 1. 1. 2008 waren zu einem Gutteil eine Reaktion auf den Druck und die politische Arbeit von Erwerbsloseninitiativen. Dass sich die Regierung angesichts der Erkenntnisse des VwGH nicht anders zu helfen wusste, als statt der Praxis des AMS das Gesetz zu ändern, um ihre Vorstellungen vom Leben in der Arbeitslosigkeit durchzusetzen, ist eigentlich ein Skandal. Allerdings ist die Rede von der sozialen Hängematte (ÖVP) respektive dem sozialen Sprungbrett (SPÖ) dermaßen wirkmächtig, dass eine nachhaltige Skandalisierung der Entrechtung der Erwerbslosen schlicht unmöglich war.
Die relative Stärke der Erwerbsloseninitiativen Mitte der 2000er Jahre resultierte unzweifelhaft aus der großen Unzufriedenheit der ArbeitslosengeldbezieherInnen in Verbindung mit einer nicht gesetzeskonformen Praxis des AMS, die verhältnismäßig leicht angreifbar war. Allerdings ist die Selbstorganisation von Erwerbslosen im Allgemeinen nicht leicht zu bewerkstelligen. Die Gründe liegen auf der Hand: Arbeitslosigkeit ist kaum je ein Dauerzustand – ganz im Gegenteil. Und selbst Personen aus Sparten bzw. Segmenten des Arbeitsmarkts, die aufgrund strukturell kurzfristiger Beschäftigungen relativ häufig am AMS stehen, sehen den AMS-Bezug eher als Durchgangs-, denn als Lebensphase, während der eine Organisierung und Kollektivierung von Interessen Sinn machen würde. Entsprechend wenig AktivistInnen gibt es.
Selbstorganisierungspraxen sind jedoch eine Voraussetzung nicht bloß für die wirkmächtige Artikulation und Durchsetzung von Interessen, sondern auch für demokratische Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung, die auf der unmittelbaren Partizipation der Betroffenen basieren. Erwerbsloseninitiativen sind deshalb integraler Bestandteil einer funktionierenden Demokratie im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik und müssen – ob in aktiver oder passiver Form – unterstützt werden. Darüber hinaus bieten viele dieser Initiativen auch Beratung und Wissen, das in anderen Zusammenhängen kaum zu finden ist (Kontaktadressen u. a. in den Materialien, ausführlicher dazu im Text von Markus Griesser in dieser Broschüre).
Conclusio
Die aktuelle Situation sowohl die Arbeitslosenversicherungsgesetze als auch das AMS betreffend ist in vielen Details untragbar und wenig transparent. Änderungen braucht es sowohl an den Schnittstellen von selbstständigen und unselbstständigen Tätigkeiten als auch in grundlegender Form. Entwicklungen wie die Einführung der sogenannten Mindestsicherung gehen trotz einzelner positiver Aspekte im Großen und Ganzen leider in die entgegengesetzte Richtung: ein Mehr an Workfare mit einer Ausweitung der im Arbeitslosenversicherungsgesetz vorgesehenen finanziellen Sanktionen (Sperren) auch auf die Sozialhilfe, die letzte Bastion der Armutssicherung. Der Kulturrat Österreich hat dazu einen Maßnahmenkatalog entwickelt, der in einer Zusammenfassung auf der Rückseite dieser Broschüre zu finden ist.
Die vorliegende Broschüre widmet sich vor allem einem: der Information. Aufgrund der Tatsache, dass Informationen nicht in ausreichendem Maße von offizieller Seite verfügbar sind, kann manches des im Folgenden Dargelegten auch nicht „der Weisheit letzter Schluss“ sein. Die enthaltenen Informationen wurden aber in rechtlicher Hinsicht mit dem bm:ask abgestimmt und sollten daher zumindest ausreichen, um die beschriebenen aktuellen Regelungen deutlich zu machen, und gegebenenfalls als Argumentationsgrundlage zur Durchsetzung von Ansprüchen dienen. Verbesserungen in der Praxis des AMS sind immer möglich – nicht zuletzt aufgrund engagierter MitarbeiterInnen innerhalb des AMS.